Ein Milliardenmarkt und wieso es trotzdem keine Halal-Zertifizierung gibt

Köln (BZZ) – In der Septemberausgabe des Migrationsmagazins „MiGAZIN“ erklärt Anya Schlie, Vorstandsmitglied der deutsch-türkischen Organisation DTFood, die Problematik der Halal-Zertifizierung in Deutschland. Der Weltmarktanteil für Halal-Nahrungsmittel lag in 2010 bei 651 Milliarden USD. Auf Europa entfielen 67 Milliarden USD und auf Deutschland fünf Milliarden USD. Wieso die Lebensmittelindustrie trotzdem keine Halal-Zertifizierung vornimmt, wer die Leidtragenden sind und wer gefordert ist, wird von der Autorin kritisch beleuchtet.

In Deutschland leben rund 4,3 Millionen Muslime. Sie alle würden sich – wenn sie die Wahl hätten – nach den Vorgaben des Korans, also halal, ernähren. Das Problem dabei: Wie soll der muslimische Konsument wissen, was halal und somit erlaubt ist und was haram und verboten? Setzt er beim türkischen Supermarkt um die Ecke voraus, dass dessen Angebot an Lebensmitteln halal ist, erwartet er im deutschen Supermarkt genau das Gegenteil. Gerade dort sind aber mehr Halalprodukte zu finden, als erwartet. Nur erfährt der Kunde dies nicht. Denn bisher waren Halalwaren bis auf wenige Ausnahmen nicht gekennzeichnet. Ein entsprechendes Siegel – ähnlich dem Biosiegel – würde hier Abhilfe schaffen. Und dem muslimischen Kunden das gute Gefühl geben, mit seinen Bedürfnissen ernst genommen zu werden.

Eigentlich ist es paradox. Die deutsche Wirtschaft schwärmt von der ebenso vielköpfigen wie kaufkräftigen und markenaffinen Kundenzielgruppe der, rund vier Millionen, Muslime in Deutschland. Doch was Versicherungen, Banken, Krankenkassen, Telefonanbieter oder Autohersteller längst für sich entdeckt haben, lässt ausgerechnet die Branche kalt, in der die umschwärmte Zielgruppe das meiste Geld lässt – die Lebensmittelindustrie. Dabei haben gerade Lebensmittel ein Kriterium, das für einen Moslem kaufentscheidend ist. Nämlich ob das Lebensmittel halal und damit für ihn nach den Regeln des Koran erlaubt ist.

Halal steht für alles, was laut Koran erlaubt und zulässig ist und bezieht sich auf das gesamte muslimische Leben, ganz besonders jedoch auf die Ernährung. Die muss nämlich speziellen Anforderungen an Hygiene und Herstellung entsprechen. Dazu gehört beispielsweise, dass die Lebensmittel frei sind von Schwein, Blut, Aas oder Alkohol. Dass sie nicht einem anderen Gott als Allah geweiht wurden oder dass erlaubte Tiere halal geschlachtet wurden.

Der muslimische Kunde
Wie aber kann der muslimische Kunde in Deutschland wissen, was ihm erlaubt ist zu essen und was nicht? Mal abgesehen davon, dass es einem Moslem, der in einem nicht muslimischen Land lebt, laut Koran grundsätzlich erlaubt ist, alles zu essen, was auch einem Christen oder Juden erlaubt ist – so lange es nicht ausdrücklich verboten ist – bleibt dem Kunden bisher nur, das Kleingedruckte der Zutatenlisten zu studieren.

Allerdings hilft das auch nicht wirklich weiter. Längst nicht alle Inhaltsstoffe sind dort aufgeführt. Wer weiß beispielsweise, dass Fruchtsäfte mit Gelatine geklärt werden. Oder dass bei dunklem Brot bestimmte Enzyme vom Schwein zum Einsatz kommen, um die Kruste schön fest und glänzend zu machen. Bleibt also, will der Kunde sicher sein, nur der Gang zum türkischen oder arabischen Supermarkt? Aber auch diese importieren ihr Fleisch nicht aus einem muslimischen Land. Statt dessen beziehen muslimische Hersteller wie Händler einen Großteil ihrer Rohwaren von deutschen Zulieferern. Die nicht immer halal produzieren. Aber immer öfter.

Sehr viel Geld
Eines hat die deutsche und europäische Lebensmittelindustrie nämlich erkannt: Mit „Food im Namen Allahs“ ist Geld zu verdienen. Sehr viel Geld! So lag der Weltmarktanteil für Halal-Nahrungsmittel in 2010 bei 651 Milliarden USD. Auf Europa entfielen 67 Milliarden USD und auf Deutschland fünf Milliarden USD. Also lässt die Industrie – allen voran große Konzerne wie Nestlè, Zentis, Wiesenhof, Meggle, Haribo – ihre Produkte längst auch halal zertifizieren. Denn nur mit einem solchen Zertifikat können die Unternehmen in die lukrativen muslimischen Märkte exportieren.

Dass es auch in Deutschland einen interessanten Markt an muslimischen Verbrauchern gibt, die eine eindeutige Kennzeichnung der für sie erlaubten Lebensmittel mehr als begrüßen würden, ist den Herstellern bekannt. So lange jedoch der Handel keine Kennzeichnung der Produkte wünscht, wird die Industrie ihre Halalprodukte nicht als solche kenntlich machen.

Drei Gründe
Dass der Handel hier nach wie vor vornehme Zurückhaltung übt, hat drei sehr einfache Gründe. Natürlich wissen die Lebensmitteleinzelhändler – Discount wie Supermarkt – dass sie ihre Umsätze mit muslimischen Kunden deutlich ausbauen könnten, würden sie glaubwürdig zertifizierte Halalwaren anbieten und dies auch kommunizieren. Sie tun es jedoch nicht.

Zum einen fürchtet der deutsche Lebensmitteleinzelhandel (LEH) die Reaktion nicht muslimischer Kunden auf das Angebot. Tatsächlich gab es wohl auch schon mal rechts orientierte böse Briefe an den einen oder anderen Händler, der versuchsweise entsprechende Produkte listete. Ob aber die Masse der deutschen Kunden wirklich ein Problem damit hat, wenn neben dem Bio- auch noch ein Halalsiegel auf der Produktverpackung ist, bleibt angesichts der internationalen Lebensmittelkultur hierzulande abzuwarten.

Tierschutz
Das zweite Argument, das der LEH gegen halal auffährt, ist die Sorge vor Angriffen militanter Tierschützer. Diese könnten ja halal im Bezug auf Fleisch wegen des vermeintlichen Schächtens anprangern. Allerdings ist selbst den PETA – Aktiven sehr wohl bekannt, dass in Deutschland nur in Ausnahmefällen geschächtet wird und die als halal deklarierten Fleisch- und Wurstwaren in deutschen Supermarktregalen ausnahmslos aus gesetzeskonformer, betäubter Schlachtung stammen. Und damit selbst nach höchster islamischer Auffassung halal sind.

Neben Angriffen von Rechts oder durch Tierschützer argumentiert der LEH allerdings auch noch mit der Uneinigkeit der hierzulande aktiven Zertifizierer, mit der Intransparenz und den Unterschieden der Zertifizierungsprozesse und der existenten Zertifikate. Der Handel fürchtet schlicht, dass letztendlich die muslimischen Kunden selbst die angebotenen halal zertifizierten Produkte nicht anerkennen und kaufen werden.

Das Problem: Die Halal-Zertifizierer
Was durchaus passieren könnte. Denn die meisten Muslime in Deutschland wissen noch nicht einmal, dass hierzulande halal zertifiziert wird. Geschweige denn, dass viele Lebensmittelhersteller längst auch nach den Regeln des Korans produzieren. Das Problem dabei ist, dass sich ein unübersichtlicher Zertifizierermarkt hierzulande zwar in den letzten Jahren auf überschaubare sechs bis sieben namhafte Zertifizierer konsolidiert hat. Diese kommunizieren ihre Arbeit jedoch erst, seitdem die traditionellen Zertifizierer, die meist im Auftrag einzelner Moscheen oder Glaubensgemeinschaften für ihre Gemeinde und natürlich für den Export zertifiziert haben, Konkurrenz von der Industrie bekommen haben. Neben den bekannten Halalzertifizierern in Hamburg (EHZ und IZH), Aachen (IZA), München (IZM) und Rüsselsheim (HalalControl) gibt es seit drei Jahren nämlich auch einen Standard (Qibla Food Control), den Muslime gemeinsam mit der Industrie und unter Mitwirkung der SGS Germany als neutralem und international anerkanntem Prüfinstitut entwickelt haben. Obgleich bei der Entwicklung des Standards, der nach eigener Einschätzung die Anforderungen der Industrie mit den Bedürfnissen der Muslime verbindet, auch Christen beteiligt waren, setzen ihn ausschließlich muslimische, fachlich kompetente Autoritäten und Auditoren um.

Etwas, was die traditionellen Zertifizierer gerne vergessen zu erwähnen, wenn sie über ihre Arbeit und die der Konkurrenz berichten. Vorzugsweise in türkischen und muslimischen Medien oder auf den Veranstaltungen der Gemeinden. Im Ergebnis sind die muslimischen Verbraucher dadurch noch irritierter und wissen immer weniger, was sie kaufen könne, welcher Aussage und welchem Zertifikat und Produkt sie vertrauen können.

Politik und Verbraucherschutz gefragt
An dieser Stelle wäre eigentlich die Politik gefragt – oder zumindest der Verbraucherschutz – um sich in die Problematik einzuschalten. Das Problem sind nämlich nicht fünf oder sechs verschiedene Zertifikate, die den Ansichten der unterschiedlichen Rechtsschulen und Glaubensrichtungen entsprechen. Das Problem ist, dass die Zertifikate und das, was dahinter steht, nicht offen und transparent kommuniziert werden. Dann könnten die Verbraucher nämlich selbst entscheiden, welchem Zertifizierer sie vertrauen und welche Produkte sie kaufen. Das wird aber voraussichtlich erst dann passieren, wenn eine übergeordnete Instanz das Ruder in die Hand nimmt und die Halalproblematik in geordnete Bahnen mit festgelegten Definitionen und Regeln für Begriffe, Zertifizierung und Zertifikat lenkt. Für die Muslime in Deutschland wäre das jedenfalls ein deutliches Zeichen, dass sie und ihre Bedürfnisse hierzulande ernst genommen werden. Selbst beim Essen!

Quelle: MiGAZIN, Migration in Germany