Streit um die Schächtung isoliert Deutschland


Tierschützer verärgern Juden und Muslime mit Glaubensurteilen

Eine sachgerechte Diskussion zur so genannten „Schächtung“ von warmblütigen
Schlachttieren ist in Deutschland schwierig geworden. Noch engagierter als gegen
das Kopftuch kämpfen beamtete und selbsternannte Tierschützer mit
Sachargumenten, aber auch mit polemischen Artikeln und Fotoserien gegen
muslimische Schlachter und vorsichtiger auch gegen deren jüdische Kollegen.
Experten der EU-Kommission befassen sich neuerdings beim Beitrittskandidaten
Türkei mit der Praxis in dessen Schlachthöfen. Nach den Menschenrechten will man
Ankara auch in Sachen Tierschutz auf die europäische Linie bringen. Parallel
dazu regt sich das religiös motivierte Fleisch-Marketing.

Seit Herbst 2006 überziehen Dutzende von mehr oder weniger wertvollen „Halal“-Zertifikaten
den globalen Lebensmittelmarkt von Malaysia bis Toronto, von Sydney bis London.
Hypermärkte im Nachbarland Frankreich, wie der Carrefour-Konzern, haben in den
stark von Muslimen bewohnten Großstädten wie Mühlhausen im Elsass oder Marseille
die Regalfläche für islamkonforme Fleischprodukte vervielfacht. Das Signet für
„Halal“ steht weltweit für islam­konforme Lebensmittel und wird inzwischen fast
ebenso gewinnträchtig vermarktet wie ein Bio-Label. Muslimische
Nahrungsmittel-Produ­zen­ten und Gastronomen können sich in oftmals teuren
Kursen „zertifizieren“ lassen, was schon einmal mehrere tausend Euro kosten
kann.

Nach neuerer deutscher Rechtsprechung muss, laut einem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2002, eine „Schächtung“ von der
jeweiligen Religionsgemeinschaft „zwingend vorgeschrieben“ sein, damit sie für
die Behörden als Ausnahme genehmigungsfähig wird. In Großbritannien ist eine
religionskonforme „Schächtung“ nicht nur erlaubt, sondern sie bleibt weiterhin
verfassungsmäßig verbrieftes Recht jedes Briten. Alle drei britischen
Par­teichefs sind zum Jahresende nacheinander im britischen „Islam TV“
aufgetreten, um anlässlich des muslimischen Opferfestes respektvolle Grußworte
an ihre Wähler islamischen Glaubens aus­zurichten. Dabei wurde klar: die
britische Verfassung wird nicht angetastet. Ähnlich wie beim Kopftuch befinden
sich die toleranten Briten einmal mehr im Widerspruch zu Deutschland. Die EU
hält sich aus jedem Religions- und Verfassungsstreit wohlweislich heraus.
Brüssel weist immer wieder darauf hin, dass die Europäische Union keinem ihrer
Mitgliedsstaaten die so genannte „Schächtung“ ohne Betäubung, generell verbiete.
Aus diesem Grund sehe die Kommis­sion keinen Anlass, im Sinne deut­scher
Tierschützer gegen britische Gesetze und Praxis einzuschreiten.

EU regelt nur Industrieschlachtungen

Die Europäische Union regelt nur Schlachtungen im gewerblich-industriellen
Bereich und wird hier auch im Sinne des Tierschutzes tätig. Aus diesem Grund
verlangt sie jetzt vom Beitrittskandidaten Türkei, dass dieser für seine
Schlachthöfe die elektrische Betäubung der Schlachttiere anordnen müsse. Danach
könne ein türkischer Schlachter das Schlachttier dann durchaus noch
religionskonform „schächten“, d.h. durch einen Schnitt durch die Kehle töten,
aufhängen und ausbluten lassen. Schlachtungen im privaten und religiösen Umfeld,
z.B. für eine Moscheegemeinde oder für ein Opfer­fest, könne die Türkei dagegen
wie jeder EU-Staat national regeln.

Die Befürchtung, nationale britische Religionsgemeinschaften könnten ihre
Rechte miss­brauchen und z.B. muslimische Industrieschlachthöfe ein­richten,
wird durch eine wirksame Selbstkontrolle, die stets aufmerksame Konkurrenz und
durch den religiösen Ritus selbst verhindert. So muss ein muslimischer
Schlachter kurz vor der Tötung eines Tieres die Formel sprechen „Im Namen
Gottes. Gott ist der Größte! Bismillah Allahu Akbar” (letzteres zwingend in
arabischer Sprache). Während eines industriellen Schlachtungsprozesses ist ein
solcher Ritus gar nicht praktikabel. Dennoch versuchte in Liverpool eine
islamische Schlach­terei die Quadratur des Kreises und installierte
Lichtschranke plus Tonträger, von dem die Koranworte pausenlos über eine
Laut­sprecher-Batterie erschallten. Der Betrieb wurde dafür von der
Halal-Organisation wie von den Behörden gemaßregelt. Ein nationaler Experte
kommentierte: „Religiöse Schlach­tungsriten können stets nur in kleinstem Rahmen
stattfinden, so wie vor 1000 oder 2000 Jahren. Hier sieht die EU keinen
Handlungs- oder Regelungsbedarf“.

Mehrere dutzend internationale Satellitensender, meist in englischer Sprache
und oft in London stationiert, verbreiten stündlich die islamischen Regeln des
täglichen Lebens, auch jene für Essen und Trinken. Britische Nahrungsmittel sind
deshalb über­all in der islamischen Welt akzeptiert, auch jene, die gar nicht
Fleisch, Wurst oder Fisch beinhalten. Im Gegensatz dazu verschwinden
land­wirtschaftliche Pro­dukte aus Ländern wie Deutschland, Dänemark oder
Holland zunehmend aus den Regalen im Mittleren Osten, und dies nicht nur im
Nachklang zum Karikaturenstreit. Gesundheitsbewusste Araberinnen kaufen
weiterhin fettarmen Quark und andere europäische Milchprodukte im Supermarkt,
diese kommen inzwischen aber meist aus Frankreich und England. Der globale
Lebensmittelmarkt ist hart umkämpft, die kaufkräftigen Araber in den GCC-Staaten
sind begehrte Kunden, immer mehr von ihnen praktizieren ihre Religion und wollen
respektiert werden. Wer sich darauf einstellt, der kann gut verkaufen.
Irak-Kriegsteilnehmer Australien hat im Vorjahr seinen Fleischexport in die
Golf-Staaten um unglaubliche 59% gesteigert. Bei Rind- wie bei Lammfleisch
bieten die Lieferanten aus „Downunder“ neben einer exzellenten Qualität die
strengste Lebens­mittelkontrolle der Welt, vor allem aber eine von der Regierung
überwachte islamkonforme Schlachtung mit einem Halal-Label. Bei den jährlichen
Weltkonferenzen für Halal-Lebensmittel, meist in Kuala Lumpur in Malaysia
abgehalten, kommen Vertreter Deutschlands öfters in Erklärungsnöte.

In Deutschland deuten Tierschützer die Thora und den Koran

In Deutschland herrscht durch widersprüchliche Urteile diverser
Verwaltungs­gerichte seit fast zehn Jahren neben Rechtsunsicherheit eine Art
religiöser Verwirrung. Für das islamische wie für das angel­säch­sische
Rechtsbewusstsein unverständlich, wurden die nach jüdischem Glaubensritus
vorgeschriebenen „Schächtungen“ zunächst toleriert, dann sogar ausdrücklich für
rechtmäßig erklärt. „Schächtungen“ durch Muslime wurden 1995 vom
Bundes­ver­waltungsgericht zunächst ausnahmslos verboten. Muslime beklagen
deshalb eine ihrer Meinung nach „deutsche Doppelmoral“. Diese Klagen haben
inzwischen auch die Staaten am Golf erreicht und beschäftigen dort regelmäßig
die deutschen Diplomaten. Der deutschen Exportwirtschaft dient das
offensichtlich nicht, deutscher Außenpolitik ebenfalls nicht. Das
Bun­des­verfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe reagierte 2002, hob das
generelle „Schächtungsverbot“ auf und handelte sich dafür viel Schelte der
Tierschützer, bis hin zu hass­erfüllten Polemiken ein. Zu den harschen Kritikern
aus der Spitzenpolitik zählten vorwiegend die Sozialdemokra­ten, allen voran der
rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck, damals noch nicht
Parteivorsitzender. Der Mann aus dem Land, wo der „Saumagen“ eine Delikatesse
ist, fand anno 2002 das Karlsruher Urteil „völlig unver­ständlich“. Sein
Land­wirtschaftsministerium befindet sich mit einer umfangreichen Website bis
heute in der Frontlinie der Lobbyisten gegen Tolerierung von
jüdisch-muslimischen „Schächtungen“ und für den Vorrang des Tierschutzes.

Das Urteil des BVerfG berücksichtigte in seiner Begründung hauptsäch­lich die
beruf­liche und religiöse Gleichstellung der muslimischen Schlachter gegenüber
ihren jüdi­schen Kollegen, denen das Schächten gestattet worden war. Zusätzlich
erlaubt es eine „Schächtung“ ohne Betäubung dort, wo die religiöse Vorschriften
dies zwingend verlangen. Wie schon die Verwaltungsrichter von 1995, sind seitdem
deutsche Islam­kenner, Islamkritiker und nicht-muslimische Hobby­theologen mit
hohem Auf­wand an Zeit und Geld dabei, den Koran aber auch Thora und Talmud
daraufhin zu durchleuchten, ob die traditionelle „Schächtung“ nun eine
„zwin­gende religiöse Vorschrift“ für Muslime und Juden sei oder eben nicht.
Ihre Erkennt­nisse publiziert die Düsseldorfer Oberstudien­rätin Karola Baumann
in einem eigenen Verlag namens „PAKT“ in Zusammen­arbeit mit der
Tierschutzorganisationen „Provieh“. In ihren Fort­setzungs­­broschüren „Ratgeber
und Orientierungs­hilfe für die Prüfung von Anträgen islamischer und jüdischer
Religions­ge­mein­schaften zur Genehmigung des betäubungslosen Schächtens“, übt
„PAKT“ Druck auf die Kreisbehörden aus, die laut Bundes­verfas­sungs­gericht
künftig Ausnahmegenehmigungen zum Schächten erlassen dürften. „PAKT“ gibt
gewichtige interreligiöse Gutachten ab und will den theologischen Nachweis
erbracht haben, dass keine der drei „Religionen der Buch­besitzer“ zwingende
Vorschriften für die „Schächtung“ nachweisen könne, folglich könnten keine
Ausnahmen gestattet werden.

Wenn keine theologischen Argu­mente mehr helfen, wird die angebliche
Intoleranz der Muslime und Juden gegenüber „Andersdenkenden“ angeführt, oft
haarscharf an der Grenze zu Rassismus und Antisemitismus. Zur Begründung eines
strikten „Schächtungsverbots“ werden Christenverfolgungen in Saudi-Arabien
ebenso bemüht wie ein weih­nachtliches Erlebnis aus Israel, wo in einem Hotel
der mitgebrachte deutsche Christbaum als „Götzendienst“ bewertet worden sei und
habe abgebaut werden müssen. Schockierende Fotoserien von türkischen, bosnischen
und albanischen Gastarbeitern und Asylanten, die auf brutalste Weise irgendwo
auf deutschen Wiesen ihre Schlachttiere erst quälen, dann abstechen und
schließlich bestialisch zerstückeln, sollen die Forderung des Koran
konter­karieren, der Tierschutz als Gebot vorschreibt.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten der „Buchbesitzer“

Im Gegensatz zur Volksmeinung ist muslimische „Schächtung“ nicht gleich
jüdische „Schächtung“, weder religiös noch technisch. Zum besseren Verständnis
müsste die Schlachtung nach abrahamitischem Ritus im Kontext mit dem arabi­schen
Terminus „Dhabiha halal“ und dem hebräischen „Kaschrut“, den jüdischen
Speisegesetzen, beschrieben werden. Der fundamentale Unterschied wird auch dem
theologischen Laien rasch deutlich: das jüdische Speisegesetz ist weniger
flexibel, d.h. restriktiver als die interpretations­freundliche­ren
Vorschrif­ten der Muslime, seien sie nun Sunniten oder Schiiten. Zu eindeutig
sind die Vorschriften in Thora und Talmud formuliert.

Beim „Schächten“ nach Kaschrut wird mittels eines sehr schar­fen Messers die
Halsschlagader und Luft­röhre des Tieres durchgeschnitten und das Tier
anschließend mit dem Kopf nach unten aufgehängt, damit es vollständig
aus­blutet. Dies darf nur ein qualifi­zier­ter „Schächter“ jüdischen Glaubens
(ein „Schochet“) ausführen. Die Länge des Messers richtet sich nach dem zu „schächtenden“
Tier. Der Verzehr von Blut ist einem orthodoxen Juden strengstens unter­sagt,
und die jüdische Küche kennt eine Reihe von Techniken, wie einem Stück Fleisch
auch noch der letzte Tropfen Blut zu entziehen ist. Nach der „Schächtung“ folgt
eine Beschau der Innereien durch einen Fachmann, wobei die Regeln hierfür vor
allem im Talmud festgelegt sind. Auch von einem koscheren Tier, das gemäß der
Regeln der orthodoxen jüdischen Küche „geschächtet“ wurde und vollständig
ausgeblutet ist, dürfen nicht alle Teile gegessen werden. Nicht gegessen werden
darf eine bestimmte Hüftsehne sowie bei Säugetieren die Fettanlagerungen rund um
Magen, Pansen, Nieren und weitere Innereien. Fleisch von optimaler Qualität wird
gerne als „glatt koscher“ bezeichnet.

Koran und Scharia der Muslime akzeptieren als Schlachter auch ein Mitglied
eines anderen abrahamitischen „Buchbesitzers“, also einen Juden oder Christen.
Ein Atheist oder Agnostiker dürfte freilich auch bei den Muslimen nicht
schlachten, muss er doch kurz vor der Tötung den einen und einzigen gemein­samen
Gott anrufen. Was also hindert die Muslime in Deutschland daran, zum koscheren
jüdischen Fleischer zu gehen? Gar nichts, im Gegenteil: jeder sunnitische Imam
wird dem Gläubigen empfehlen, dieser solle bei einem orthodoxen Juden einkaufen,
denn was „koscher“ sei, das wäre auch allemal „halal“. Schon Prophet Mohamed aß
regelmäßig Fleisch, welches er von einem jüdischen Schlachter erworben hatte.

Laut jüdischem Speisegesetz darf das Schlachttier unter keinen Umständen und
in keinerlei Form vor der Tötung betäubt werden. Dies ist eine zwingende
Religions­vorschrift im Sinne des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von
2002, auch wenn deutsche Tierschützer inzwischen einen Rabbiner aufgetrieben
haben, der das für seine Sekte nicht bestätigen wollte. Um das Schlachttier für
den Schnitt durch die Halsschlagader korrekt zu fixieren, benutzen jüdische
Schlachter aus­nahms­­los den so genannten Weinberg-Apparat. Nach dem Eintreiben
wird das Schlachttier in diesem Apparat fixiert und anschließend für den Schnitt
in den Hals auf den Rücken gedreht. Zahlreiche Veterinäre, z.B. das
Landwirtschaftsministerium von Rheinland-Pfalz, lehnen diese Fixierungsmethode
ab, wohl wissend, dass eine Fixierung stets schwierig ist, da die Schlachttiere
nicht selten von stressgeplagten Schlachthof­arbeitern per Elektrotreiber in den
Apparat hineingejagt werden. Für Kenner der deutschen Industrieschlachthöfe ist
denn auch die Diskussion um tiergerechte „Schächtung“ weitgehend Heuchelei. Die
größten deut­schen Schlachthöfe stehen u.a. in Nordrhein-Westfalen, wo z.B. die
Westfleisch AG aus Münster in ihrem Schlachthof in Minden schon vor zwei
Jahrzehnten täglich 20’000 Schweine und 2’000 Rinder schlachtete. Die
Internet-Wissens­börse „Wikipedia“ vermerkt dazu lexikalisch: „Die Firma
West­fleisch AG und ihre Subunternehmen verlangen im Jahr 2007 von ihren
Beschäftigten Schichten von zwölf Stunden Dauer an sechs Tagen der Woche.“ Hier
geht es freilich nicht darum, einzelnen Schlachttieren den Hals
durchzuschneiden, sondern um den „Shareholder Value“ vieler Aktionäre.
Muslimische wie jüdische Kleinschlachter sind durch ihre zeit- und
kraftaufwändige Arbeit selten reich geworden.

Gutachten aus Kairo nur bedingt von Wert

Das Urteil des deutschen Verfassungsgerichts wird nach Auffassung von einigen
Verfassungs­juristen zu Unrecht kritisiert. Karlsruhe habe sehr wohl gewusst,
dass weder Juden noch Muslime beweisen könnten, dass irgend­eine Vor­schrift
ihres Glaubens „zwingend“, d.h. für alle Mitglieder ihrer
Religions­gemein­schaft verbindlich sei. Bekanntermaßen gäbe es orthodoxe Juden,
die sich ent­sprechend kleiden, regelmäßig in der Synagoge beteten und andere,
die ihre Re­li­gionsgesetze weniger streng oder gar nicht befolgten. Inzwischen
wissen auch Berlin und Karlsruhe, dass die immer wieder gerne zitierte
Islamische Universität Al Azhar in Kairo zwar eine der höchsten Autoritäten des
Islam, aber längst nicht mehr unumstritten ist, seitdem dort der Großscheich im
Range eines stellver­tretenden Ministerpräsidenten Mitglied der Regierung
Mubarak ist. Zu oft wurde der Scheich von Al Azhar, Dr. Muhammad Sayyid Tantawy,
für Ausländer auch „Grand Imam“ betitelt, in jüngster Zeit von den Mächtigen des
Westens zu Urteilen aufgefordert. George W. Bush zitiert ihn ebenso wie Jacques
Chirac und neuerdings der stramm-rechte Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy,
der sogar persönlich nach Kairo geflogen war, um sein Kopftuchverbot theologisch
zu untermauern. Der oft be­nutzte Vergleich zwischen dem Vatikan und Al Azhar
hinkt allerdings gewaltig, denn zumindest die sunnitischen Muslime kennen gemäß
Koran und in der Tra­dition ihres Propheten keinerlei theologische Hierarchie.
Für sein Seelenheil und den Einzug ins Paradies ist jeder Gläubige selbst
verantwortlich. Er darf weder Verbo­te­nes zu Erlaubtem erklären, noch Erlaubtes
verbieten. Geradezu widersinnig erscheint es deshalb Juden wie Muslimen, wenn
religionsfremde „Experten“ den Gläubigen vorschreiben wollen, was für deren
Religionsausübung „zwingend not­wen­dig“ ist und was nicht.

Es ist immer mehr Europäern klar, dass sowohl unter juristischen, als auch
ethischen, religiösen und politischen Aspekten der Themenkomplex der
Religions­vorschriften und deren möglicher Widerspruch zu Gesetzen und
Vorschriften des Staates ganzheitlich bewertet werden muss. In fast allen EU-
Staaten und in der Schweiz stehen nun seit Jahrzehnten drei Themen im Fokus der
öffentlichen Dis­kussion: 1) Religiös motivierte „Schächtungen“, 2) das Tragen
des „Hijab“ (Kopf­tuch) durch strenggläubige muslimische Frauen und 3) der Bau
von Moscheen von praktizierenden islamischen Religions­gemeinschaften. Da sich
auch Muslime (und gerade Muslime) zunehmend europäisch und global vernetzen,
wird es fraglich, ob die europäischen Nationalstaaten aufgrund ihrer sehr
unterschiedlichen Traditionen überhaupt noch fähig sind, Regeln für ein
multikulturelles und multireligiöses Zu­sam­menleben aufzustellen. Falls aber
nicht, ist dann die EU dazu imstande? Auch ohne Juden und Muslime ist die eher
wirtschaftlich als politisch motivierte Union bereits heillos in ethischer
Konfusion verstrickt. Das Parade­beipiel ist allzu bekannt: Während das
katholisch geprägte Irland die Abtreibung noch heftig bekämpfte und mit deftigen
Freiheitsstrafen ahndete, lagen vor der Küste „Hospital­schiffe“ aus den
liberalen Niederlanden und boten (zahlungskräftigen) irischen Frauen ihre
Dienste an. Demgegenüber war der Krümmungsgrad der europäischen Salatgurke schon
frühzeitig normiert und harmonisiert worden.

Blauäugiger Tierschutz und blutige Realität

Manche obergerichtlichen Urteile zu „Schächtungen“ las­sen auch fehlenden
veterinärmedizinischen Sachverstand erkennen. Eine fachlich korrekt
durchgeführte Schächtung ohne jede Betäubung könnte durchaus humaner und
tier­freundlicher sein als jede industrielle Massen­schlach­tung. Tierärzte der
Uni­versität Hannover, die bei den Schlachttieren mittels Elektroenzephalografie
(EEG) Messungen vornahmen, bestätigten in einem Gutachten: wird das Tier korrekt
fixiert, ein scharfes Messer benutzt und der Schnitt anatomisch korrekt
durch­ge­führt, dann leide es nicht, da es diese Art der schnellen Tötung gar
nicht mehr be­merken könne. Diese Methode der medizini­schen Diagnostik durch
Messung der summierten elektrischen Aktivität des Gehirns mittels Aufzeichnung
der Span­nungsschwankungen an der Kopf­ober­fläche bestätigt nach Meinung vieler
ortho­doxer Juden und Muslime die Tier­freundlichkeit einer viele Jahrhunderte
alten religiösen Vorschrift der frühen abrahamitischen Religionsstifter.

Die Praxis sieht freilich meist völlig anders aus, was Tierschützer mit Recht
anprangern. Ein Schlachter und ein oder zwei Helfer können einen geängstigten
Jungbullen auch bei bestem Willen kaum so fixieren, dass ein anatomisch
einwandfreier Messerschnitt möglich wird. Muslimische Laienmetzger, die im
Dämmerlicht eines abgelegenen Bauernhofes mehr oder weniger legal ein oder zwei
Schafe schlachten, besitzen oft weder fachliches Können noch ein wirklich
scharfes Messer und sind selten in der Lage den Koran zu lesen. Das Ergebnis ist
dann keine islam­kon­forme „Schächtung“, sondern im Gegenteil ein krasser
Verstoss gegen alle ein­schlägigen Vorschriften der Scharia. Das Tier leidet,
was es laut Koran nicht darf und es entkommt, schwer verletzt, für einige
Minuten seinen Schlächtern, um dann elend zu verbluten statt auszubluten. Aus
diesem Grund gibt es bei den sunnitischen Muslimen seit fast dreissig Jahren
einen Konsens, den rund 75% der Gläubi­gen tragen: eine fachgerechte Betäubung
vor der eigentlichen Schlachtung ist nicht verboten. Neuerdings hat der
religiöse Führer von Al Azhar in Kairo, eine der be­kann­testen, wenn auch nicht
die einzige Autorität des sunnitischen Islam, sich der Expertise der
Veterinär­vereini­gung von Istanbul angeschlossen und ist bereit, eine Fatwa
(islamisches Urteil) zu erlassen, dass eine elektrische Betäubung vor der
Schlachtung als „empfehlenswert“ bezeichnet. Damit stünde einer Einbindung der
industriellen Schlachtbetriebe der Türkei in die EU nichts mehr im Wege. Für
türkische Muslime, die eine andere Meinung haben als Al Azhar, gäbe es noch
immer den nationalen Weg der privat-religiösen „Schächtung“ ohne Betäubung,
vorausgesetzt, die türkische Regierung verhält sich ebenso tolerant wie jene des
britischen Königreiches. Eine kontrollier­te orthodoxe „Schächtung“ wäre dem
Tierschutz zuträglicher als verfassungsrechtlich zweifelhafte Verbote und
illegale Hof-Schlachtungen, die auch noch die Gesundheit der Menschen gefährden,
die das amtstierärztlich nicht kontrollierte Fleisch später verzehren.

Veterinär- und religionswissenschaftliche Fragen mögen die meisten Deutschen
wenig berühren, eher schon die angeblichen „Leitwerte der deutschen Kultur“. Von
einer Mehrheit wird unter Berufung auf diese „Leitwerte“ bezweifelt, ob sich das
„christlich geprägte Abendland“ mit seinen Werten der Aufklärung von den
Muslimen und von den Juden überhaupt religiöse Forderungen gefallen lassen
müsse. Die deutsche Öffentlichkeit mag deshalb „koscheres Essen“ oder „Halal
Food“ noch ignorieren; die deutsche Wirtschaft kann dies nicht. Der islamische
Lebensmittelmarkt wird bis in das Jahr 2010 von heute 150 auf dann 500
Milliarden US-Dollar anwachsen. Ein paar dutzend mittelständischer Aussteller
nahm dies Ende Februar während der Fachmesse „Gulfood 2007“ in Dubai zur
Kenntnis.